SCHMERZTHERAPIE - EIN SEGEN ODER EIN FLUCH?

Während in der unmittelbaren postoperativen Schmerztherapie in den letzten Jahren enorme Fortschritte gemacht wurden, kann man das Gleiche bei den chronischen Schmerzen leider bei weitem nicht sagen. Ein Referat auf einem Schmerzkongress trug den provokant-ironischen Titel: „Schmerztherapie - ein Segen oder ein Fluch?". Der Referent verglich den derzeitigen Stand der Therapie von chronischen Schmerzen mit der Geschichte von des Kaisers neuen Kleidern - alle wissen es, dass das derzeitige Modell nicht so gut funktioniert, wie es manche Kollegen in den Medien darstellen, aber keiner spricht darüber.

Schmerz, ein Gefühlszustand wie Angst oder Zorn?

Als Ergebnis der neuesten neuromorphologischen Forschung mit modernen bildgebenden Verfahren (PET) wird der chronische Schmerz neuerdings als Gefühls Zustand („homeostatic emotion") verstanden. Wegen der sich im Gehirn überlappenden Regelkreise ist er von Emotionen wie Trauer, Angst, Scham, Sorge, Zorn neuromorphologisch nicht zu unterscheiden. Die unmittelbaren Auswirkungen von Gedanken und Emotionen auf den Körper sind hinreichend untersucht: keine Freude ohne Herzklopfen, keine Angst ohne Blutdruckanstieg und Schweißausbrüche, keine Scham ohne Veränderung der Hautdurchblutung usw.
„Schmerz ist die Fähigkeit des Körpers, durch Organsprache darauf hinzuweisen, dass ihm zurzeit keine andere Möglichkeit der Konfliktverarbeitung zur Verfügung steht." (Pesesskian 2002)

Operieren oder nicht? Beispiel Rückenschmerzen

Nehmen wir Rückenschmerzen als Beispiel. Seit Jahren ist bekannt, dass die Fünf-Jahres-Ergebnisse der konservativen, d.h. nicht-operativen und operativen Therapie akuter Bandscheibenvorfälle mit Wurzelsymptomatik gleich sind. Wenn man selbstkritisch genug ist, muss man folgenden Fakten zur Kenntnis nehmen: Folgt man epidemiologischen Studien, so werden 90 Prozent aller Patienten mit Rückenschmerzen innerhalb von sechs Wochen beschwerdefrei, unabhängig von der Art der Therapie und auch ganz ohne Therapie. Hier sollte sich in der Zukunft ein weites Studienfeld eröffnen, welches untersucht, ob einzelne Behandlungsmethoden, die bisher als hilfreich und als Standard empfohlen werden, einen über die Spontanheilungsrate hinausgehenden Benefit haben.
Wenn man wieder epidemiologische Studien zur Rate zieht, kann man sagen, dass die Wahrscheinlichkeit jemals im Leben Rückenschmerzen zu erleiden, größer als 80 Prozent ist. 40-50 Prozent der Bevölkerung haben öfter oder immer Rückenschmerzen. Eine kanadische Studie belegt die Tatsache, dass nach sechswöchiger Arbeitsunfähigkeit wegen Rückenschmerzen die Wahrscheinlichkeit, wieder in den Arbeitsprozess eingegliedert zu werden rapide sinkt.

Was ist zu tun?

Als Resümee dieser Fakten kann man feststellen, dass die bisherigen Behandlungskonzepte, die auf einer monokausalen (eine Ursache eine Wirkung) Basis gründen, versagt haben. Die exorbitante Zunahme an Patienten und Kosten spricht für sich.
Das noch praktizierte und gültige pathomorphologische Paradigma entspringt einem monokausalen, linearen medizinischen Denken, das außer einer Ursache (Zellschädigung) und einer Wirkung (Schmerz) nichts anderes zulässt.
Das ist aber eine Einbahnstraße. Es gibt nichts davor, nichts dazwischen, nichts danach. Das Symptom an sich übt immer noch eine unheimliche Faszination auf die etablierte Lehrmedizin aus. Es wird mit hellen Scheinwerfern angestrahlt, wird als Figur deutlich sichtbar, während sein Hintergrund unsichtbar im Dunkeln bleibt. In diesem Konzept ist alles klar und deutlich - nur es funktioniert in der Praxis nicht, wenn man zu sich selbst ehrlich ist!

Verlorene Schlüssel

Es erinnert an die Geschichte von dem Mann der seine Schlüssel verloren hat. Er sucht sie lange und vergeblich unter einer Straßenlaterne. Andere Menschen kommen hinzu und helfen ihm beim Suchen. Nach gewisser Zeit fragt ihn ein Mann: „Sag mal, wo hast du sie denn genau verloren?"- Er antwortet: „Da drüben, auf der anderen Straßenseite". -Der Man fragt verwundert: „Warum suchst du sie denn nicht dort?" -„Da drüben ist so dunkel, da würde ich sie bestimmt nicht finden."

Vielleicht ist es ein Glück?

Nach neuesten amerikanischen Untersuchungen findet sich bei 85 Prozent der Patienten mit chronischen Schmerzen keine adäquate körperlich-medizinische Erklärung.
Vielleicht ist es ein Glück, dass chronische Schmerzen das Versagen des monokausalen medizinischen Denk- und Krankheitsmodells so krass an das Tageslicht gebracht haben. Sonst würden wir immer noch nur unter der hell erleuchteten Straßenlaterne nach den Schlüssel suchen.
Was nützt ein Erklärungsmodell, wenn es nur noch bei 1-5 Prozent der Patienten anwendbar ist. Basis dieser Behauptungen sind mehr und mehr Publikationen, die darauf hinweisen, dass z.B. Bandscheibenvorfälle und Diskuspathologien gerade bei Menschen ohne jeglichen Kreuz- oder Rückenschmerzen in hohem Maße nachweisbar sind. Das gilt in noch höherem Maße für die meisten anderen degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule. Denken Sie hier an die sehr beliebten „Verschleiß"-Diagnosen. Hier wird etwas, was einfach da ist, als erstbeste Erklärung und „Ursache" missbraucht. Eine Koinzidenz, ein zufälliges Nebeneinander stehen, wird einfach zur Korrelation, zur Ursache von einander erklärt.

Biopsychosoziales Modell

Die Fokussierung auf degenerative oder andere pathomorphologische, also nur sichtbare Veränderungen ist nach dem heutigen Kenntnisstand nicht zielführend. Wenn also der bisherige monokausal-linearer Betrachtungsrahmen keinen zufrieden stellenden Blick auf den chronischen Schmerz geboten hat, stellt sich die Frage, ob nicht ein anderes Paradigma einen größeren Blickwinkel ermöglicht. Nach heutigem Kenntnisstand könnte das multifaktorielle, biopsychosoziale Paradigma, das Prozessabläufe beobachtet, dieser neue, weitere Rahmen sein.
Denn die Frage stellt sich, sind unsere bisherigen diagnostischen und therapeutischen Anstrengungen möglicherweise dazu geeignet, einen gutartigen, physiologischen Schmerz (z.B. Rückenschmerz), iatrogen noch zu verstärken und zu stabilisieren bei einer derzeit ohnehin verstärkten Schmerz Wahrnehmung und Bewertung in der Bevölkerung?
„Implantieren" wir vielleicht selbst die so genannten dysfunktionalen Überzeugungen über das Krankheitsbild bei Schmerzpatienten, die dann schwer zu korrigieren sind?

,In jedem Anfang liegt ein Zauber inne...

Auf jeden Fall sind sich die Forscher darüber einig, dass der Zeitpunkt des Einstiegs in das biopsychosoziale Krankheitsmodell entscheidend ist. Er hat bereits bei der ersten Begegnung des Arztes mit dem Schmerzpatienten zu geschehen, wenn es zum Erfolg führen soll. Es gibt einfache verbale Interventionen, die den Einstieg elegant, sanft und für Patienten akzeptabel machen.
Wenn aber dieser Einstieg erst nach zahlreichen erfolglosen diagnostischen und therapeutischen Bemühungen versucht wird, ist der Compliance in den meisten Fällen nicht mehr gegeben. Der Patient fühlt sich verraten und verlassen von seinem Arzt und lehnt es entschieden ab, dass jetzt plötzlich seine Schmerzen, vom Stress, von anhaltenden Spannungen und ungelösten Konflikten her kommen sollen. „Ich bin doch nicht verrückt, ich habe tatsächlich Schmerzen", sagt dann der Patient zurecht und das sollte ja auch niemand bestreiten.

Universitäre Ausbildung - ein Fehlschlag?

Die Ärzte, die den Schmerzpatienten zuerst sehen, sind in der Regel Allgemeinärzte, Internisten und Orthopäden. Es ist leicht zu verstehen, welche enorme Verantwortung sie nun tragen.
Das seit Einführung der Gate-Control-Theorie (Melzack 1965 und später Wall) unter Fachleuten propagierte mehrdimensionale biopsychosoziale Schmerzmodell, das eigentlich eine Abkehr vom monokausalen medizinischen Denken einleiten sollte, hat bislang weder in der klinischen Praxis noch in der universitären Ausbildung eine ausreichende Verbreitung erfahren.
Das lässt sich nur damit erklären, dass „keiner so blind ist wie der, der nicht sehen will", wie es so schön in einem Spruch heisst.
Die Ärzte, die es wirklich wissen wollen, sind nach Ihrem Studium gezwungen, parallel zum Beruf, teure und zeitraubende Weiterbildungen zu besuchen, unzählige Wochenenden zu opfern, um ihr monokausales Krankheitsmodell der Praxiswirklichkeit anzupassen, um dem Praxisalltag gerecht zu werden.
C. Popper versteht die Wissenschaftlichkeit so, dass die bisher wissenschaftlich anerkannten Thesen auf Grund neuer Erkenntnisse jederzeit verändert werden können und sollen. Wissenschaft ist für ihn nur „der jetzige Stand des Irrtums“.

Liste mit Warnhinweisen für das Chronifizierungsrisiko:

Dysfunktionale Überzeugungen (Beliefs):

> Überzeugung des Patienten (und manchmal des Arztes), dass Bewegung, Belastung und Aktivität ihm schaden würden.
> Überzeugung, dass Schmerz vor der Wiederaufnahme von Aktivitäten vollständig verschwunden sein muss.
> Überzeugung, dass der Schmerz unkontrollierbar ist.
> Fixierte Vorstellung über Behandlungsverlauf.
> Erhöhte Aufmerksamkeit für körperliche Symptome
> Hilflosigkeit, Resignation

Verhalten

Ausgeprägtes Schonverhalten
Rückzug von Alltagsaktivitäten
Ausgeprägtes Vermeidungsverhalten
Extremes Schmerzverhalten (auch Intensität)
Schlafstörungen, mangelnde Schlafhygiene
Medikamentenmissbrauch

Familie

> Überprotektiver, überfürsorglicher Partner
> Abhängigkeitsvorgeschichte (Medikamente, Alkohol)
> Familienangehöriger bzw. wichtige Bezugsperson als Schmerzpatient.
> Gravierende partnerschaftliche/ familiäre/berufliche Konflikte

Arbeitsplatz

Überzeugung, dass die Arbeitstätigkeit dem Körper schadet
Wenig unterstützende Umgebung am Arbeitsplatz
Konflikte mit Vorgesetzten oder Kollegen
Intrigen, Mobbing
Entlastungsmotivation

Diagnostik und Behandlung

> Schonverhalten vom Arzt unterstützt
> Mehrere, zum Teil sich widersprechende Diagnosen und Therapien
> Verschreibung passiver Behandlungen
> Feste Überzeugung, dass nur eine somatische Behandlung (Operation, Blockade, Medikamente) Besserung bringen kann.

> Unzufriedenheit über vorhergehende Behandlung
Und was zunächst noch trivial erscheint, sollte als wichtiger Risikofaktor berücksichtigt werden: Die zumeist stärksten Prädiktoren für wiederkehrende Schmerzen sind
> vorausgehende Schmerzepisoden, so dass der Patient schon gewohnt ist über Schmerzen zu kommunizieren.

Die Symptome, die uns Patienten präsentieren, sind zwar ehrlich und real, aber die Ursachen liegen so oft hinter dem Präsentiersymptom. Es gibt keinen Zweifel, dass die Zeit für uns reif ist, unseren Focus in der Tiefenschärfe noch besser als bisher einzustellen. Denn wie man so schön sagt: „Nichts ist so stark wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist".

Schmerztherapie und Schmerzambulanzen

spielen gegenwärtig leider eine unrühmliche Rolle. Patienten kommen mit Schmerzmittel, Beruhigungsmittel und Opiaten zugedröhnt und abhängig geworden zurück. Aus einem Problem ist dadurch eine Problematik entstanden die schwer zu behandeln ist. Der Grund ist, dass emotionale Ursachen für Beschwerden nicht erkannt oder erkannt, aber nicht adäquat behandelt wurden.